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Blog von Christian Stach Juli 2011


Tag 1
Jede zweite Ankunft hat schon den ganz kleinen, manchmal kaum zu bemerkenden Beigeschmack von Gewöhnung. Sie macht es leichter, aber auch langweiliger. Als wir gestern die Kimbanguisten in ihrem Zentrum in Kinshasas Stadtteil Ngiri Ngiri wiedertrafen, waren wir nicht gelangweilt. Wir kamen unauffällig an, kein inszenierter Empfang wie beim letzten Mal, und hatten den Eindruck, das halbe Jahr seit dem letzten Besuch war nur eine kleine Unterbrechung; kurz einige notwendige Besorgungen gemacht und da sind wir wieder. Hallo Freunde, die bekannten Gesichter und Namen, und lass mal sehen, woran Ihr gearbeitet habt. Aber es gab einen Sprung, eine Stufe, die inzwischen erstiegen worden war, die erste große Überraschung: Der Chor ist besser geworden und im Orchester hat sich dieses kritische Bewusstsein für die Schwierigkeiten ausgebreitet. Es klingt selbstverständlicher als bei der letzten Aufführung.


Tag 2
Das gemeinsame Mittagessen mit dem Dirigenten Armand Diangenda ist schon seit dem letzten Besuch institutionalisiert. Wir sind bei ihm eingeladen, die Frauen im Innenhof kochen drei Gänge und werden von zwei Papageien unterhalten, die Bonjour sagen, wenn sie Lust haben. Jedes Essen ist Pause, Entspannung, Unterhaltung, Lagebesprechung, Ausblick. Es fängt wie die Proben mit einem gemeinsamen Gebet an – in Westeuropa etwas aus der Mode gekommen, einigen noch von früher bekannt, hier Teil der Umgebung und unpathetisch. Wenn man will, kann man sich dazu Gedanken machen über die Selbstverständlichkeit von westlichem Luxus. Wir leben in einer der reichsten Gegenden der Erde und merken es nicht. Das Dankgebet als soziales Memento.


Tag 3
Wir sind zu fünft nach Kinshasa geflogen. Rupert Huber, der ehemalige Chef des WDR-Chores, die beiden Sänger Sabine Kallhammer und Rolf Schmitz-Malburg von unserem Chor, Pierre-Alain Chamot, Geiger im WDR-Sinfonieorchester und ich selbst. Weil ich Kontrabaß spiele, unterrichte ich die Kontrabassisten. Sie sind zu dritt, Antoine ist der Hausmeister des Anwesens und verschwindet häufig kurz, wenn er gebraucht wird; Julien hat einen Beruf und ist deswegen nur abends bei den Gesamtproben da, Edgard Lelo nicht und hat viel Zeit. Er ist der beste der drei. Ein ernsthafter junger Mann von 32 Jahren. Er kommt morgens um zehn und geht abends um neun. Zuhause warten seine Mutter und eine Schwester, ein Bruder, ein Cousin und noch ein oder zwei andere Familienmitglieder; der Vater ist 2004 gestorben. Er hätte gern einen Beruf in einem Büro, irgendeinen IT-Job, passend zu seiner Ausbildung. Statt dessen übt er Bass. Er ist viel besser geworden seit dem letzten Mal, er merkt sich die Tips und setzt sie verbissen um. Irgendwann hat er Englisch gelernt, sein Wortschatz ist umfangreich. Wenn es ihm wichtig ist, etwas zu sagen, stottert er, je wichtiger, desto mehr, und manchmal schlägt er sich mit dem Handballen gegen die Schläfe, damit es herauskommt. Ich war froh, ihn wiederzusehen, er ist ein gewissenhafter ruhiger Mensch, der sich ernsthaft nach den musikalischen Dingen erkundigt. Man fühlt sich sicher in seiner Gesellschaft.


Tag 4
Am Vormittag hatten wir uns schon im Amphitheatre de Verdure getroffen. Eine Arena im Grünen, Teil einer Mobuturesidenz, gebaut in den 70er Jahren auf dem Höhepunkt seiner Macht, als er noch internationale Boxkämpfe inszenierte. Das Theater war Teil des Unterhaltungsprogramms für eine panafrikanische Konferenz und gehörte zu den umfangreichen Anlagen in der Nähe des Palastes, die er für die Besucher bauen ließ. Die frisch geweißte Betonstruktur hat die Eleganz von Niemeyerbauten. In der Vormittagssonne standen wir geblendet auf der Bühne und hatten gerade Armand und Sabine Blomeyer, die Frau des deutschen Botschafters, zum ersten Mal seit unserer letzten Abreise getroffen. Ein ausgesuchter Ort für ein Wiedersehen, ausladende Vegetation, Blick über den Kongo und beobachtet von den Statuen der Kolonialzeit, hier in einem kleinen Museum geparkt, als sie überflüssig geworden waren. In der Stadt sind sie jetzt durch die Helden des neuen Kongo ersetzt. Stanley, König Leopold und eine irritierende doppeldeutige Gruppe, die anscheinend die segensreiche Verbindung von Kongolesen und europäischen Herren symbolisieren soll. Die Europäer treten als Beschützer und wohlmeinende Lehrmeister auf, aber ungewollt sind ihnen die Unterdrücker anzumerken.


Tag 5
Der religiöse Aspekt. Das Sinfonieorchester gehört zur Kirche der Kimbanguisten. In den 20er Jahren trat im Kongo ein christlicher Prophet auf, Simon Kimbangu. Er predigte die Gleichheit der Rassen vor dem Herrn und stellte die weiße Dominanz in den Kirchen in Frage. Aber nur wenige Monate; die belgischen Kolonialbehörden arretierten ihn vorsichtshalber. Dreißig Jahre später starb er in Haft. Armand Diangienda ist sein Enkel. Er wird in der Kirche tief verehrt; ob nur als Nachfahre oder als eigene religiöse Erscheinung, darüber gibt es unterschiedliche Auskünfte. Ein unprätentiöser Mann, einfach im Umgang, ernsthaft, ohne steif zu wirken. Seine Bescheidenheit wäre ein auffälliges Merkmal, wenn Bescheidenheit nicht unauffällig wäre. In seiner dezent weltläufigen Art weiß er mit der überraschenden Aufmerksamkeit umzugehen, die der Film “Kinshasa Symphony” über ihn und seine Musiker brachte. Der Erfolg des Films ist ihm nicht unwillkommen. Es strecken sich seitdem viele Hände aus. Schwierig ist nur, die richtigen zu ergreifen. Dabei hilft ihm seine Menschenkenntnis aus der Seelsorge. Menschenkenntnis ist von Herkunft und religiösen Überzeugungen geprägt, es wäre interessant, diese Einflüsse abschätzen zu können. Wohin richten sich die Augen, wenn sie aus einem großen Haus mitten im armen Viertel einer Drittweltmetropole blicken? Diesem Haus, das ja das Hauptquartier der Kimbanguisten ist. Ein weitläufiges, etwas unübersichtliches Gebäude, das jederzeit von Leuten wimmelt, Armen wie nicht ganz so Armen, Musikern, Gläubigen, Helfern, den Frauen in der Küche. Könnte sein, daß das ein Ausschnitt aus kongolesischem Leben ist, wie man ihn sonst nicht zu Gesicht bekommt. Könnte auch sein, daß der Ausschnitt zu speziell ist. Es ist Armands Ausschnitt und für eine Weile auch unser. Wir haben die Wichtigkeit der Religion für Chor und Orchester verstanden. Und wenn man Religion nicht von vornherein anrüchig findet, muß man hier ihren positiven Einfluss zugeben. Im Benehmen, im Handeln, in den praktischen Dingen. Im Zentrum steht das Singen. Jeder kann singen; man kommt damit der Gemeinde näher und wird ihr Teil. Das Musizieren auf Instrumenten ist eine Verlängerung des Singens. Edgard, der Bassist, hat die Angewohnheit mitzusingen, was er spielt. Er dürfte nicht der Einzige sein.
 

Tag 6
Wenn wir am späten Nachmittag aus Armands Haus kommen und auf den Fahrer warten, wenn wir unterwegs sind durch den Abendverkehr, ist der Tropenmond aufgegangen. Er liegt auf der Seite und sieht aus, als ob er den Kopf schief legt. Wahrscheinlich hat er auch die Augenbrauen hochgezogen, der alte Schelm. Schließlich schaut er auf Kinshasa, das Narrenschiff am Kongo. Er denkt, was macht ihr in dieser Stadt? Wo nichts mehr zu retten ist? Das haben ihm diejenigen eingeredet, die wissen, wie man’s besser macht. Es aber auch nicht können. Weiße, die viel von Afrika gesehen haben und ein sicheres Urteil fällen. Sie weisen Kin im ranking der Großstädte den zweitletzten Platz zu. (Den letzten nimmt normalerweise Lagos ein.) Kann sein. Es fällt auf, daß einiges anders ist als in Westeuropa und nicht so läuft wie erwartet. Kein Luftkurort hier. Gemüse wird auf dem Gelände einer Müllhalde angebaut und mit der Asche aus dem verbrannten Müll gedüngt. Autoreifen, Plastiktüten, Batterien. Wir fahren jeden Tag dran vorbei und sehen die Gemüsebauern als Silhouetten durch die schwarzen Rauchfahnen. Aber die Abscheu anderer, offen geäußert oder in der politisch korrekten Version der unmerklich überheblichen Nachsicht mit witziger Note, vorherrschend in neueren Veröffentlichungen, ändert nichts daran, daß wir eine ganze Menge interessanter Dinge sehen, daß wir Leute treffen, die so arm sind, wie wir’s uns nicht vorstellen können, und trotzdem die Laune nicht verloren haben, daß das Kongoufer mit seiner Vegetation in Abschnitten zu den schönsten Landschaftsarrangements zählt, die angeboten werden, daß die in Afrika weitverbreitete Masche, Werbungen auch weltbekannter Marken als Murals auf Wände zu malen, die Stadt zu einer großen Kulisse macht. Es gibt was zu gucken. Klar, das sind saturierte Beobachtungen. Man kann sich fragen, ob man Laiensinfonieorchester in einem der ärmsten Länder der Welt unterstützen muß. Man kann sich fragen, was man statt dessen machen sollte. Man kann sich alles Mögliche fragen. Man kann solange nach dem Sinn fragen, bis man ihn endlich weggefragt hat. Man kann aber auch tagsüber rumgucken und abends ins Konzert von Papa Wemba gehen.


Tag 7
Das Orchester hat inzwischen eine Nachwuchsabteilung und bildet auch Kinder aus. Dafür sind kleine Geigen gespendet worden. Sabine Blomeyer, die Frau des deutschen Botschafters, macht mit ihnen die ersten Übungen, und wie immer, wenn Kinder Instrumente lernen, wird es lebhaft. In einer Mischung aus Spaß und großem Ernst spielen sie ihre leeren Saiten und machen ihre kurzen Übungen, begleitet vom Tonband oder von Frau Blomeyers Geigenspiel. Old McDonald had a Farm. Ah vous dirai-je, Maman. Der Nachwuchs ist nur eine von mehreren Aufgaben, die Frau Blomeyer übernommen hat. Sie hat in Essen Geige studiert. Jetzt kümmert sie sich in ihrer Freizeit um die Anleitung der Geiger des OSK. In Zusammenarbeit mit dem Konzertmeister Héritier Mayimbi oder seinem Bruder Rodrick und Armand Diangienda überlegt sie sich Übepläne, überprüft das Spiel der einzelnen Musiker und kümmert sich um alles, was es noch zu organisieren gibt. Überhaupt ist die deutsche Botschaft in maßgeblicher Weise an der Unterstützung des Orchesters und des Chores beteiligt. Die frischen, kulturell vielfältig interessierten Blomeyers sehen es als eine ihrer Aufgaben während ihrer drei Jahre in Kinshasa, die Musiker der Kimbanguisten zu fördern und ihnen Wege zu ebnen. Und nicht nur ihnen, zum Glück. Auch uns mit unserem Unterstützerprojekt. Wir dürfen die Logistik der Botschaft nutzen, Fahrer und Wagen der Blomeyers. Der Botschafter hat die Idee mit dem Amphitheater gehabt und die Finanzierung des Auftritts durch eine lokale Bank sichergestellt. Herr Roth, der Kulturattaché, ist ständig mit der Organisation kleiner und großer Abläufe beschäftigt. Radioauftritt von Pierre Chamot oder Beleuchtung beim Botschaftskonzert. Denn die Botschaft gibt während unseres Aufenthaltes einen Abend mit Konzert. Wir, die Musiker vom WDR, haben ein kleines Programm vorbereitet, und es werden Gäste aus der diplomatischen Szene, aus Kultur, Wirtschaft, Politik und Entwicklungshilfe eingeladen. Wegen unserer etwas lückenhaften Besetzung: Dirigent, Sopran, Bass, Geige, Kontrabass, haben wir auf klassische Musik verzichtet und lieber diese melancholische Musik aus dem 50er- und 60er-Jahre-New York und aus Musicals mitgebracht. Morgens hatte der blinde Klavierstimmer noch den Flügel auf Tropenstimmung temperiert. Pierre und Rupert Huber fangen dann mit Kreisler-Schmankerln an, und Peter Blomeyer selbst lässt am Schluß den Boogie Woogie rollen. Kommt gut an, haben wir den Eindruck. Wir treffen Jupiter, einen der gefragten einheimischen Musiker, wir sehen gut situierte weiße Herren mit jungen Frauen aus der Region, wir sprechen mit Leuten, die unser Projekt unterstützen könnten. Die Stimmung ist gut, Essen und Trinken auch.


Tag 8
Auf dem Gelände der deutschen Botschaft stehen zwei Gebäude: Die Kanzlei und die Residenz des Botschafters, sein Wohnhaus also. Beide im gleichen Sil, gerade weiße Betonarchitektur aus den 80er Jahren, etwas ineinandergeschachtelt mit halbrunden Accessoires. Der Garten fällt zum Kongoufer ab, er ist üppig, Mangobäume, Sternfruchtbaum, Avocadobaum, Jackfruit und hohe Palmen. In die Palmstämme sind Kerben wie Stufen gehauen, in die der Gärtner eine Pflanzenfaserschlinge als Sitz einhängt und so den ganzen hohen Stamm besteigt. Ab und zu müssen die abgestorbenen Palmwedel abgeschlagen werden. Es gibt einen Gemüsegarten und eine Menge bunter Vögel: auffällig gekleidete Gesellen, fremdartige Sänger. Eigentümlich für Neuankömmlinge ist ihre Angewohnheit, auch nach Einbruch der Dunkelheit zu singen. Von der weitläufigen Terrasse hat man Blick auf den Kongofluß. Als wir draußen spielen, ist es schon dunkel. Der Garten ist zum Fest erleuchtet, die Abendbrise weht die Blätter vom Notenständer und wirft eine der beiden Leuchten um, die Herr Roth aus seiner Wohnung mitgebracht hat. Der Abend ist ein Erfolg.


Tag 9
Sonntag feiern die Kimbanguisten ihren Gottesdienst. Wir machen einen Ausflug. Herr Blomeyer lädt uns zu einer Kongoreise auf dem Fluchtboot der Botschaft ein. (Falls es ungemütlich wird, könnte man nach Brazzaville entwischen, der Hauptstadt des anderen Kongostaates.) Durch einen bräunlichen Dunst ahnt man die Skyline. Wir fahren mit dem Geländewagen am Wohnsitz von Mobutus Sohn vorbei und dann am Präsidentenpalast mit dem Mausoleum von Laurent-Desiré Kabila. In guter alter Manier hat er sich davor als Statue aufgestellt. So in der Ferne; Zutritt verboten, Fotografieren erst recht. Die Volksferne setzt sich nach dem Tod fort. Heute regiert Joseph Kabila, der Sohn, den man immerhin beim Joggen antreffen kann oder rauchend auf dem Balkon seines Palastes. Sagt man jedenfalls. Wir sausen verschämt vorbei und schiffen uns in einem verlassenen abgewrackten Hafengelände ein. Es wird von einem alten Flußdampfer dominiert. Davon gibt es am Stadtufer eine ganze Menge. Viele sind bewohnt. Ob die Schiffe eine bessere Unterkunft bieten, als die Einzimmerzementhütten, ist schwer zu sagen. Ich versuche mir den Aufenthalt in einem Dampfer vorzustellen, der schräg aufs Ufer gezogen ist. Keine senkrechte Linie, keine Orientierung. Liegt aber alles schnell hinter uns, mit fünfunddreißig Knoten. Wie die Anwesen von General Olenga, der das Kunststück vollbracht hat, unter jeder Regierung in der Spitze der Streitkräfte zu bleiben, von Mobutu und von Jean-Pierre Bemba, einem der Gegenspieler Kabilas. Unter dem Verdacht massiver Menschenrechtsverletzungen wartet er in Den Haag gerade weitere Entwicklungen ab. Wir mit unserem Schnellboot wickeln ab und zu die Schlingpflanzen von der Schraube ab. Dazu stoppt das Boot und fährt eine kleine Strecke rückwärts. Der Fluß ist befahren. Pirogen mit einem Mann an Bord, scheinbar müßig. Mit zweien, der eine wirft das Netz zwischen die vielen Fische, glitzer. Oder mit sehr vielen. Diese großen Pirogen, Einbäume, die etwa fünf Jahre halten, kentern häufig. Wer nicht schwimmen kann, und das sind ganz schön viele, hat auf dem riesigen Fluß, der hier mehrere Kilometer breit ist, keine Chance. Wassermenge durchschnittlich 40.000 Kubikmeter pro Sekunde, mehr schafft nur der Amazonas. Hinter Kinshasa fangen die Stromschnellen an. Es gibt auch Motorschiffe, das sind Schubeinheiten, die einen oder mehrere Leichter vor sich her ächzen. Auf diesen floßähnlichen Kähnen ist eine maximale Menge Gepäck aufgetürmt und darauf und dazwischen Menschen verteilt. Eine bunte Fracht, die von weitem aussieht, als würde Müll transportiert. Alle paar Wochen legen in Kinshasa auch die alten Flussdampfer ab, umgeben von Leichtern die die Reise bis Kisangani machen sollen, dem alten Stanleyville An der Biegung des Flusses oder Conrads Innerer Station. 1700 Kilometer, einige Wochen. Wir sind schneller, fahren aber auch nur bis zum Ende des großen Sees, den der Kongo hier bildet. Früher hieß er Stanley Pool, jetzt Malebo Pool. Wo der Fluß wieder ein Fluß ist, liegt am südlichen Ufer ein bequemes Gartenrestaurant, Ziel für heute. Man isst Capitaine. Die Fische werden auf Bestellung aus dem Kongo geholt. Kundschaft sind hier Leute, die sich’s leisten können. Sie sind mit einer ganzen Reihe schwerer Geländewagen gekommen und stammen aus Indien, dem Libanon, Arabien, Europa und dem Kongo. Jede Gruppe sitzt in einem Betonkarree mit schwerem Strohdach. Die landschaftliche Lage ist bestrickend, die Berge auf beiden Ufer sicher fünfhundert Meter höher als das Wasserniveau. Fluss- aufwärts beginnt das Abenteuer. Wir fahren zurück.


Tag 10
Das Konzert, das Anfang letzter Woche noch weit weg schien, ist überraschend nah gerückt. All die Proben, einzeln, mit der Instrumenten- oder der Stimmgruppe, mit allen Streichern, Bläsern, dem Chor, oder mit allen, nähern sich dem Ende. Es gibt Musiker, denen man die Spannung anmerkt. Rupert Huber, wenn nicht alles täuscht. Jemand, den man originell nennen muß, ein Typ. Der sich nicht darum kümmert, was andere von ihm halten. Ist auch nicht nötig. Wer ihn auch nur kurz kennengelernt hat, merkt, daß er hier ein Künstlerindividuum und einen Menschen getroffen hat. Verständnis, kein Dünkel, verschrobener oberösterreichischer Witz, auffälliger Bart unter dem kahlrasierten Schädel. Körperhaltung aufrecht, Energie überdurchschnittlich. Könnte sein, daß der Kimbanguistenchor ihn nicht genau einschätzen kann. Wir hoffen, daß er trotzdem ankommt, daß das zutiefst Humane an ihm bemerkt wird. Er redet, wie Thomas Bernhard geschrieben hat. Vernichtende Urteile mit verständnisvollem Augenzwinkern. Außerdem hat er keinerlei Berührungsängste. Rupert, der alte Buddhist, wohnt die Hälfte seines Lebens in Kathmandu und ist sicher nicht von Drittweltdetails zu überraschen. Nur von musikalischen Pannen. Es steht noch nicht fest, daß der Freitagabend, das große Konzert im Freilufttheater Verdure, so klappt, wie sich alle wünschen. Heute ist so nebenbei noch die Transportfrage aufgetaucht. Wie kriegt man über hundertdreißig Musiker quer durch die riesige Stadt? Ausreichend Autos haben wir nicht, öffentlichen Transport gibt’s nicht. Mal sehen.
Pierre-Alain ist Sonntag abgereist. Das war so geplant, aber er hat es bedauert. Wenn er es auch nicht dauernd gesagt hat: Wir wissen es. Er hat viele Freundschaften geschlossen hier. [Pierre: Calvinismus, jugendliche Sartrelektüre.] Am Sonnabendabend haben wir noch über die nächsten Projekte gesprochen: Er wird wiederkommen. Und diese Woche, nach seiner Abreise, unterrichte ich nicht nur die kleine Bassgruppe und die Celli, sondern leite auch die Proben mit allen Streichern.


Tag 11
Sie treiben zwei von diesen blaugelben Bussen auf, alte Lieferwagen, in die über Schablonen Fenster geschnitten sind. Einer davon wird am Freitag noch eine besondere Rolle spielen, aber jetzt ist erstmal Donnerstag, Generalprobe. Das modernistische Theater mit den einladenden Statuen aus der Kolonialzeit, das wir vor zehn Tagen schon besichtigt haben, füllt sich mit den Akteuren. Einige haben ähnliche Bartformen bei König Leopold und Rupert Huber entdeckt (wir auch), und es wird gefordert, die beiden zu fotografieren. Bis die Probe losgeht, verstreicht viel Zeit. Aus niemandem bekannten Gründen verstreicht immer viel Zeit; das Stundenkorsett des eigenen Lebens irgendwo in Europa gerät aus dem Blick. Die Termine, die man den Tag über hat: Hier nicht mehr relevant, und man gewöhnt sich eigentümlich schnell daran. Also schlendern wir den Hügel hinter dem Theater hoch, unter hohen Bäumen, bis zu einer überwucherten Steinstruktur. Ein Kolonialfriedhof, benutzt zwischen 1881 und 1901. Belgier, Schweden, Norweger, Deutsche; die meisten sind keine dreißig Jahre alt geworden. Das war die Zeit von Joseph Conrad; als der Kongo noch dem König gehörte, als die Sklavenhalter Europäer waren und Hände als Trophäen abhackten. Ihre Namen, Daten, Berufe und Herkunftsländer sind auf zwei Tafeln aufgelistet, Techniker die meisten, Eisenbahnbauer, Seeleute für die Flussschiffahrt. Und Missionare.


Rev. Joseph L. Roger
For 12 Years
Missionary at Stanley Pool
Born 10th November 1881,
Died 25th February 1901.
“Our names are written in the Lamb’s Book.”


Vom Amphitheater her nimmt der Geräuschpegel zu. Chor und Orchester haben sich auf der Bühne aufgestellt. Es dämmert und man fängt unwillkürlich an, vor dem Gesicht herum zu wedeln. Die Probe wird mäßig. Morgen muß elektronische Verstärkung her.
 

Tag 12
Die Auffahrt zum Hügeltheater ist steil. Einer der beiden Busse, die jetzt am Freitagnachmittag ankommen, mit den Kimbanguisten in Konzertkleidung, schafft die Steigung nicht. Er rollt zurück, kippt um und fällt in eine Senke. Jede Menge kleiner Verletzungen, Schürf- und Platzwunden, Schocks. Sechs Musiker müssen im Krankenhaus behandelt werden, und es dauert eine Zeit, bis klar wird, daß es glimpflich abgegangen ist. Die Stimmung ist gedrückt, Armand Diangienda telefoniert die meiste Zeit wegen der Verletzten. Was soll er auch sonst tun?: Die Verstärkeranlage ist statt um 8 Uhr um 14 Uhr angeliefert worden und liegt in Teilen in der Nähe der Bühne. Einige Techniker fangen an, sie zusammenzubauen, es wird klar, daß von einem Sound-check keine Rede mehr sein kann. Wir sind so gegen vier da, weil Rupert Huber eine Probe um halb fünf haben wollte und das Konzert für 18 Uhr angesetzt ist. Gegen 19 Uhr geht’s los. Rede des Deutschen Botschafters, Rede des Kabinettschefs der Kulturministerin, die morgens noch ihr persönliches Erscheinen zugesagt hatte, Ankündigung des Programms. Erster Teil Chorwerke: Deutsche Messe von Schubert mit einem einmontierten Palestrina-Choral, Ave Verum Corpus von Mozart und der Halleluja-Chor aus Händels Messias, der in keinem Programm der Kimbanguisten fehlen darf, wegen der Wirkung. Der zweite Teil ist dem Orchester gewidmet. Beethovens Ouverture zu Goethes Schauspiel Egmont, es geht da um Freiheitskampf. Ich denke an Lumumba, dessen Statue ich wieder nur im Dunkeln aus dem Auto gesehen habe. Zweite Peer-Gynt-Suite und An der Schönen Blauen Donau. Genauso läuft es ab. Der Chor singt hervorragend, das Orchester zeigt sich von seiner besten Seite. Kein Vergleich zum Vortag. Währenddessen füllen sich die konkaven Ränge. In einer Mischung aus Schätzen und Zählen kommen wir auf etwa siebenhundert Besucher. Der Ort wirkt gut gefüllt, und als die blaue Donau endgültig in den Kongo geflossen ist, geht Applaus los, stimmgewaltig. Also gibt es Zugaben: Wie abgesprochen den Radetzkymarsch, wie nicht mehr abgesprochen das O Fortuna aus den Carmina Burana, und dann hingerissen vom eigenen Erfolg auswendig das Sanctus aus Mozarts Requiem. Nicht alle können das auswendig. Rupert Huber geht lieber und verhüllt sein Haupt, jedenfalls muß man das annehmen. Wir entdecken noch einmal Unterschiede zwischen unseren konzeptionellen Erwartungen und den Vorstellungen der Afrikaner. Na und? Ein großer Abend. Alle sind begeistert. Die Musiker waren so gut, wie wir sie noch nie gehört haben, und die organisatorischen Schwierigkeiten haben sich zum Schluß in Luft aufgelöst.
Was zu sagen bleibt: Wir planen die nächsten Workshops. Brussels Airlines unterstützt uns und Verhandlungen mit anderen Geldgebern laufen. Trotzdem sind wir auf Spenden angewiesen. In variablen Gruppen mit Chorsängern und Musikern aller Instrumentenarten des Sinfonieorchesters wollen wir ein- bis zweimal im Jahr nach Kinshasa fliegen und Unterricht geben. Die Schwerpunkte in Chor und Orchester sind unterschiedlich. Was am Ende steht, wie die Ergebnisse aussehen, wer weiß. Wir begreifen das Projekt als eine musikalische Entwicklungsarbeit, angestoßen von den Musikern des OSK, aufgenommen von den Musikern in Chor und Sinfonieorchester des WDR. Entwicklungen vollziehen sich nach eigenen Gesetzen, aber wir glauben, daß diese Art von Musik, die zufällig auch unser Leben bestimmt, Fuß fassen wird in neuer Umgebung und dann einen etwas bunteren Horizont hinter den Alltag malt. Wie bei uns.
Dank an alle, die zum Gelingen beitragen!

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