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Fotos: Michael Bause

BLOG von Nicola Jürgensen - März 2012

Nicola Jürgensen, Soloklarinettistin im WDR Sinfonieorchester und Mutter zweier Kinder, fährt zusammen mit drei Kollegen Manuel Bilz (Oboe), Ludwig Rast (Horn) und Christian Stach (Bass) am 6. März 2012 in den Kongo, um dort mit den Musikern des Orchestre Symphonique Kimbanguiste, bekannt aus dem Film „Kinshasa Symphony“, zu arbeiten.
Über die Eindrücke und Erlebnisse dieser ungewöhnlichen Reise berichtete sie in einem Blog.

 

6. März, Abends
KONGO? BELGIEN!!

Wir fahren tatsächlich los! Ich treffe meine Kollegen Christian Stach, Kontrabass, und Manuel Bilz, Oboe, am Gleis 6 des Kölner Hauptbahnhofs und wir steigen in den ICE nach Brüssel. Dort werden wir am Flughafen übernachten und morgens den Flieger nach Kinshasa besteigen. Der Vierte im Bunde, Hornist Ludwig Rast, trifft in Brüssel noch Freunde und wird beim Einchecken zu uns stoßen. Für einige Heiterkeit sorgt unser Gepäckaufkommen – wir haben außer unseren eigenen Instrumenten noch Materialspenden und Instrumente für die Musiker dabei. Und so reisen wir zu Dritt mit fünf großen Koffern, dazu Instrumentenköfferchen für Oboe, Englischhorn und Klarinette, einem Kindercello und einer Kindergeige und zwei Rucksäcken. Manuel trägt zusätzlich seine Kameratasche, Christian noch einen Metallkoffer mit seinen wichtigen Papieren sowie allen Devisen und zu guter Letzt das Etui mit seinem Baßbogen. Wir versuchen, uns jeder die Anzahl der Teile, die wir tragen müssen, zu merken – was sich später noch als sehr sinnvoll herausstellen soll!
Was erwarten wir - Was erwartet uns?
Für die Fahrt suchen wir uns einen Vierertisch und unterhalten uns. Natürlich ist der Kongo das dominierende Thema! Christian ist unser erfahrener Afrika-Reisender, er war unter anderem schon auf Madagaskar, in Südafrika, in Tansania, im Sudan… Er war auch derjenige, der die Zusammenarbeit zwischen dem OSK (Orchestre Symphonique Kimbanguiste) und unserem Orchester, dem WDR Sinfonieorchester, überhaupt initiiert hat und reist bereits zum dritten Mal nach Kinshasa. Bislang waren, mit zwei Ausnahmen, vor allem Streicherkollegen und Chorsänger zu Gast bei den Kimbanguisten, haben unterrichtet, Kammermusik- und Stimmgruppenproben geleitet. Dieses Mal soll ein Bläserschwerpunkt gesetzt werden. Manuel hat sich vorgenommen, den Oboisten die Technik des Rohrebauens beizubringen und schleppt dafür kiloweise Material und Rohrholz mit. Ich stelle mir vor, dass ich vor allem die Klarinettisten unterrichte, Duette und Trios mit den Klarinettisten und Fagottisten erarbeite und habe sogar die Noten eines Bläserquintetts eingepackt. Natürlich sind wir sehr gespannt, was wir vorfinden. Durch die Schilderungen der Kollegen, die vor uns dort waren - zuletzt vor drei Wochen eine Gruppe von drei Orchesterkollegen - haben wir einen guten Eindruck bekommen und viele Fotos sehen können. Und natürlich haben wir allen den Film "Kinshasa Symphony" gesehen. Aber wahrscheinlich kann einen doch nichts wirklich auf die überwältigenden Eindrücke vorbereiten, die einen erwarten. Die Hitze. Die Geräusche. Die Gerüche... Das Essen! Wir freuen uns - und sind gleichzeitig auch alle ein bisschen aufgekratzt...wir beschließen schon jetzt, dass der Abend unbedingt mit einem Bier in der Hotelbar ausklingen muss, damit wir auch gut schlafen können!
Ist der Kongo gefährlich?
Brüssel Nord, umsteigen vom ICE in den Flughefen Express, der uns vorläufig ans Ziel bringt. Wir diskutieren: Wie "gefährlich" ist unsere Reise eigentlich? Und welche Gefahren könnten einen in Kinshasa erwarten? Soll man aggressives Betteln fürchten? Überfälle? Krankheiten? Rebellenaufstände? Während wir uns angeregt unterhalten kommen auf unserer Bahnsteigseite zwei Männer auf uns zu, einer hält Christian einen zerknitterten Fahrschein unter die Nase und radebrecht auf Französisch "Gare Nord, Gare Nord??" Wir verstehen nicht, was er will, zumal wir am Gare Nord stehen. Mir kommt das Ganze schon komisch vor, da sehe ich aus dem Augenwinkel, wie sich von der anderen Seite ein dritter Mann nähert. Lässig telefonierend ein Handy am Ohr, peilt er die Bank an, auf der unser Artistengepäck lagert und hat plötzlich Christians Metallkoffer in der Hand! Ich drehe mich um, schnauze ihn an "Hehe, der Koffer bleibt hier!" und nehme ihm das Ding wieder ab. Alles innerhalb von Sekunden. Christian und Manuel stehen mit dem Rücken zum Dieb und haben noch gar nicht gemerkt was los ist, da sind die beiden schrägen Typen wieder weg und der Dritte macht sich, weiterhin lässig telefonierend aus dem Staub und ist innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Wir sind baff. Und können es nicht glauben! Wäre der Koffer weg gewesen, hätte Christian die Reise sofort wieder abbrechen müssen! Kein Geld. kein Pass, sämtliche Devisenreserven sowie die vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellten Gelder für unsere Kosten vor Ort – eine Katastrophe. Unsere Erleichterung lässt uns schon wieder witzeln: Fahren wir in den Kongo, den Kopf voller Gedanken, was in diesem Land wohl alles passieren könnte - und dann werden wir schon in Belgien beklaut! Für den letzten Teil der Zugfahrt sitzen wir jedenfalls auf unseren Koffern. Und stoßen an der Hotelbar mit, nein, nicht belgischem, sondern mexikanischem Bier auf die glückliche Ankunft am Flughafen inklusive aller Gepäckstücke an!


7. März, Abends
AFRIKA!

Den größten Teil der Anreise haben wir hinter uns gebracht. Es ist 18 Uhr 30. Nach einem einstündigen Zwischenstopp in Douala, der größten Stadt Kameruns, wo uns zum ersten Mal die heiße und vor allem feuchte Luft Afrikas entgegenwehte, werden wir in etwa anderthalb Stunden in Kinshasa landen. Die längste Zeit des Fluges habe ich lesend zugebracht. Durch Zufall stieß ich auf das Buch einer deutschen Journalistin, was ich auf gut Glück bestellt habe und was sich mittlerweile als inspirierender und fast unerschöpflicher Quell von Faktenwissen über Land, Leute und Geschichte des Kongo erwiesen hat. Nebenbei ist es einfach und spannend zu lesen. Nun hämmere ich auf meinem iPad herum und versuche, die vielen Gedanken, Bilder und Geschichten zu ordnen, die mir im Kopf herumschwirren. Mein in den letzten Wochen angesammeltes Wissen stammt aus eben jenem Buch, Wikipedia, Spiegel online, der Website des Auswärtigen Amtes, den Schilderungen der Kollegen, die vor uns hier waren und natürlich von Christian, der das dritte Mal dorthin reist und auch was die Literaturkenntnis betrifft schon wesentlich weiter ist als ich. Bei mir haben sich vor allem Zahlen festgesetzt – verstörende Zahlen. 82% der kongolesischen Bevölkerung haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. 12% der Kinder sterben vor Erreichen des ersten Lebensjahres. Geschätzte 5 Millionen Tote in den beiden Kongokriegen der späten Neunziger und des frühen Jahrtausends, dazu Unzählige durch Krieg, Verstümmelungen und Vergewaltigungen Traumatisierte. Die Angaben zur durchschnittlichen Lebenserwartung schwanken zwischen 46 und 52 Jahren.
Verstörend, wie gesagt. Was habe ich überhaupt im "Herz der Finsternis" zu suchen? Ich wollte nie nach Afrika. Abenteurertum ist nun wirklich das Letzte, was man mir nachsagen kann. Die Romantik von Giraffen und Elefantenherden, die vor der untergehenden Sonne durch die endlose Savanne ziehen; eine Nacht im Safarizelt eines Nationalparks beim Geschrei der Affen und fernen Gebrüll der Löwen verbringen; Gorillas im Nebel und so weiter und so weiter... Der ganze Klischeekram hat mich bisher nicht verleitet, den afrikanischen Kontinent erkunden zu wollen und hätte es auch wahrscheinlich weiterhin nicht getan. Und jetzt also mitten hinein.
Wie vom Donner gerührt
Ich wollte also nie nach Afrika – bis ich zum ersten Mal den Trailer des Films "Kinshasa Symphony" sah. Ich konnte kaum glauben, WAS ich da sah. Beethovens Neunte Sinfonie, aufgeführt auf einem staubigen Platz inmitten eines heruntergekommen, mit unseren Augen betrachtet slumartigen Viertels von Kinshasa. Vor Tausenden von begeisterten Zuhörern! Und plötzlich war sie da, die Faszination. Die Verbindung. Ich wusste, ich muss da hin, ich will dahin. Menschen, die unter ungleich viel schwereren Bedingungen leben als wir, Bedingungen, die wir uns nicht einmal im Ansatz vorstellen können. Menschen, die ihre Instrumente selber bauen, Kontrabässe aus Schablonen aussägen, gerissene Geigensaiten durch Bremskabel von Fahrrädern ersetzen. Die unglaubliche Mühen auf sich nehmen, um im täglichen Überlebenskampf noch die Zeit und Energie für mehrstündige Orchesterproben zu finden.
Beethoven ist eben doch universell
Denn trotz aller offensichtlichen und riesigen Unterschiede: Die Musiker des kongolesischen Orchesters spielen Beethoven und andere klassische Musik mit derselben Begeisterung, derselben Hingabe, wie wir. Widmen sich, mitten im Chaos, der Musik, die ihnen wie uns eine Leidenschaft, eine Berufung vielleicht und ein Zufluchtsort ganz ohne Zweifel ist. Wir Vier fahren natürlich mit der Hoffnung dorthin, dass wir den Kollegen dort helfen können, sie weiterbringen und motivieren, ganz abgesehen davon, dass wir kiloweise Material, Instrumente und Musikerequipment im Gepäck haben. Aber wir alle gehen auch mit einer gewissen Demut an die Sache heran. Mit großem Respekt für die kongolesischen Musiker, die täglich für uns unvorstellbare Probleme zu lösen haben. Ja, wir gehen davon aus, dass auch wir lernen werden. Lernen dürfen. Und das ist der Grund, weswegen wir in diesem Flieger sitzen.
Buchtipps:
Joseph Conrad, "Das Herz der Finsternis"
Andrea Böhm, "Gott und die Krokodile" Eine Reise durch den Kongo


8. März, Morgens
ANKOMMEN

Es ist frühmorgens, ich liege auf einem breiten Bett in meinem Zimmer, über mir surrt ein großer Ventilator, der die stickige, feuchte Luft so herumwirbelt, dass zumindest ein kleiner kühlender Luftzug entsteht. Gestern abend um 20 Uhr landeten wir in Kinshasa und wurden durch ein Missverständnis von gleich zwei Parteien in Empfang genommen. Bestellt war eigentlich Maggy, eine kongolesische Dame, die längere Zeit in Deutschland gelebt hat und nach wie vor hervorragend Deutsch spricht. Sie arbeitet hier in Kinshasa bei der Wasserbehörde und war schon vom ersten Besuch unserer Kollegen an engagiert um zu fahren, praktische Hilfe zu leisten und Dinge zu organisieren und nicht zuletzt im Unterricht mit den Musikern zu übersetzen. Aber auch die Botschaft hatte einen Fahrer geschickt, um uns abzuholen, und so verteilten wir uns auf zwei Fahrzeuge – nachdem wir die Einreisekontrolle hinter uns gebracht, unsere Impfpässe kontrollieren lassen, unsere vielen Gepäckstücke über den chaotischen Flughafenvorplatz gewuchtet und in einem Kleinbus verstaut hatten. Matthieu, der Fahrer mit dem Maggy kam, nahm uns bereits am Gepäckband in Empfang und führte unsere kleine Kolonne an. Er verkündete jedem Uniformträger, der sich uns in den Weg stellen wollte lautstark, dass er für uns zuständig sei und verscheuchte rigoros sämtliche jungen Männer, die uns die Koffer aus der Hand nehmen und die paar Schritte bis zum Auto tragen oder zumindest auf die Ladefläche heben wollten, in der Hoffnung, sich wenigstens ein paar Francs Congolais zu verdienen.
Die Straßen von Kinshasa
Ludwig und Manuel fuhren mit Maggy, Christian und ich bestiegen den Wagen der deutschen Botschaft und wurden von Paulin, dem Fahrer der Botschaftergattin Sabine Blomeier, zu unserer Unterkunft für die nächste Woche gebracht. Die Fahrt begann abenteuerlich. Chinesische Firmen haben, als Gegenleistung für die Zusicherung von Schürfrechten in den Diamantenminen der Kasai-Provinz, die Straße von der Stadt zum Flughafen asphaltiert. Die letzten Kilometer haben sie dann allerdings, aus welchen Gründen auch immer, nicht fertig gestellt. Das Wort "Straße" kann man für diesen Abschnitt gar nicht benutzen. Eine Sandpiste, mit Schlaglöchern übersäht, eher Kratern eigentlich, um beziehungsweise durch die hindurch Paulin immer wieder im Schritttempo fahren muss. Staub überall. Autos, Motorräder, Mehrsitzer und Kleinbusse, die als Sammeltaxis genutzt werden und buchstäblich mit Menschen vollgestopft sind – wer nicht mehr hinein passt, steht auf dem Trittbrett und hält sich am Dach fest. Oder sitzt gleich AUF dem Dach. Unglaublich viele Menschen auf der Straße, die am Straßenrand auf eben diese Taxis warten, von A nach B laufen, weil sie sich den Fahrpreis nicht leisten können oder schlicht, wie Christian es formuliert, die ganze Nacht "rumrennen und hoffen, irgendwo etwas zu Essen aufzutreiben".
Petroleum und Autoscheinwerfer
Und es ist dunkel. Straßenlaternen gibt es nicht. Niedrige Holzverschläge mit Wellblechdächern säumen den Straßenrand, wir können sie nur schemenhaft erkennen – im Licht von, so sieht es zunächst aus, hunderten von Kerzen! Vor diesen Hütten, in denen Menschen wohnen, aber auch kleine Läden betrieben werden, stehen Plastikstühle und kleine Tischchen im Freien. Auf vielen dieser Tische stehen, wie ich dann erkenne, kleine Petroleumlaternen, deren Flackern im Vorbeifahren wie Kerzenlicht aussieht. Das ist die einzige Beleuchtung! Und die Autoscheinwerfer natürlich, jedenfalls bei den Wagen, bei denen sie funktionstüchtig sind.


Deutsche Botschaft
Je näher wir dem Stadtzentrum kommen, desto besser werden die Straßen. Wir sehen jetzt auch Häuser, die einen wesentlich stabileren Eindruck machen, als die flachen Hütten zuvor. Schließlich kommen wir an unserem Ziel an: Der deutschen Botschaft, in deren Gästehaus, der sogenannten kleinen Residenz, wir untergebracht sind. Botschaft und Residenz liegen wunderschön, direkt am großen Kongo-Fluss, auf dessen gegenüberliegenden Seite wir Brazzaville, die Hauptstadt der Republik Kongo, ausmachen können. Die Explosion eines Munitionslagers, die Brazzaville am letzten Sonntag erschütterte und viele Tote forderte, hat auch auf dieser Seite Schäden angerichtet. Durch die Druckwelle der nur etwa vier Kilometer Luftlinie entfernten Explosion ist ein Fenster zu Bruch gegangen und die Eingangstür hat sich verzogen und lässt sich nur noch mit Gewalt schließen. Ansonsten ist die Residenz einfach ausgestattet, aber geräumig und zweckmäßig eingerichtet, mit eigener Küche, gut funktionierenden sanitären Einrichtungen und einer schönen, zum Kongo liegenden überdachten Veranda – nicht zu vergessen einem kleinen Wachpavillon, in dem Tag und Nacht ein Guard über uns wacht. Kurze Zeit nach unserer Ankunft steht das Botschafterehepaar vor der Tür, in der Hand eine für uns gebackene Quiche, die wir dann kurzentschlossen wieder die fünfzig Meter in die Botschaft zurücktragen und dort auf der großen und sehr schön eingerichteten Botschaftsveranda verzehren. Auf unserem Tisch stehen Weingläser neben Autan-Fläschchen... Die Malariaprophylaxe soll gut wirken, aber nichtsdestotrotz muss man einige weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um nicht trotzdem von der Malaria tropica befallen zu werden.
Ich bringe die große Veranda und die elegante, luxuriös eingerichtete Botschaft nur schwer in Verbindung mit den Bildern, die ich noch von der Fahrt eben im Kopf habe und schlafe schwer ein. Die Hitze tut ein Übriges, die Nacht ist unruhig. Aber schließlich bin ich nicht zum Schlafen hier! Gleich geht es zu den Kimbanguisten! Wir freuen uns und sind wahnsinnig gespannt, endlich die Musiker kennenzulernen!


8. März, Abends
DIE MUSIKER

Heute morgen haben sind wir nun zum ersten Mal die Musiker des OSK getroffen. Die Neugierde war auf beiden Seiten gleich groß... Bis auf Christian, der schon zweimal hier war und wusste, dass er mit Edgar, dem begabtesten der Kontrabassisten mit dem er sich zusätzlich sogar auf Englisch verständigem kann, gleich würde loslegen können, wusste keiner von uns, was ihn erwartet. Nach einer vierzigminütigen Fahrt kommen wir im Zentrum der Kimbanguisten und Haus von Armand Diangenda, dem Dirigenten des Orchesters, an. Normalerweise dauert die Fahrt halb so lange, aber es ist der Internationale Frauentag, auf den Straßen haben sich hunderte festlich gekleidete Frauen und Mädchen versammelt, die in langen Reihen und Transparente tragend eine Parade abhalten. Einige Straßen sind gesperrt und Paulin muss Umwege fahren. Als wir gegen halb elf bei Armand eintreffen, sind noch keine Musiker da. Man weiß, dass wir ab heute hier sind und irgendwann wird auch irgendjemand kommen. Allerdings weiß niemand, wer das sein wird und wann. Wir setzen uns auf die Veranda und verschnaufen erstmal von der Fahrt, die uns physisch wie psychisch etwas durchgerüttelt hat... Es ist schwer, die Eindrücke von Kinshasa bei Tag wirklich einzufangen. Das Chaos auf den Straßen, dass aber – so müssen wir einfach annehmen – trotz allem einer gewissen Ordnung gehorcht, die bloß für uns nicht erkennbar ist. Die Fahrt durch Wohnstraßen, in denen wir kurze Blicke in die Häuser und Hinterhöfe werfen können und uns nach kürzester Zeit die Adjektive ausgehen für das, was wir sehen und wir einfach still werden. Ich werde es sicher bei anderer Gelegenheit versuchen, jetzt aber möchte ich mich wieder in die Oase von Armands Haus begeben, in der wir immer noch sitzen und auf die Musiker warten.


Bei Adam und Eva anfangen
Kurze Zeit später trudeln tatsächlich nach und nach Menschen mit Instrumentenkästen ein. Anhand deren Form – da ist ein Horn drin, hier eine Tuba, dort eine Klarinette! – springen wir nacheinander auf und machen uns mit den Musikern bekannt. Ich treffe auf Junior, den ersten der fünf Klarinettisten, suche mir in dem verwinkelten Gebäude, das Armand Wohnhaus ist, aber auch an die Kapelle der Kimbanguisten angrenzt, einen Salon und wir legen los. Ich bitte Junior, mir etwas vorzuspielen, eine Tonleiter, irgendetwas, was er gerne spielt. Er beginnt mit dem vierten Satz der Neunten Beethoven, ein Stück aus der Klarinettenstimme. Sofort werden die vielen Probleme, mit denen er am Instrument zu kämpfen hat, deutlich. Ich überlege fieberhaft, wo ich einsteigen soll und vor allem wie ich meine Anweisungen in mein rostiges Schulfranzösisch transkribiert bekomme. Maggy, die auch zum Übersetzen für uns da ist, assistiert Ludwig, der schon mit einer Gruppe von Blechbläsern arbeitet.


Welten treffen aufeinander
Junior wie auch Jasmine, die eine Dreiviertelstunde später eintrifft, spielen auf für unsere Verhältnisse totalem Anfängerniveau. Wobei beide recht gut im Vom-Blatt-Lesen sind und die leichten Mozart-Duette, die ich bald auspacke, nach relativ kurzer Zeit spielen können. Vielleicht liegt es auch daran, dass sich derjenige von beiden, der gerade nicht mit mir arbeitet, in eine Ecke des Zimmers zurückzieht und an seiner Stimme übt. Ich habe Skrupel, ihren Enthusiasmus zu dämpfen, deswegen dauert es bis zum Nachmittag bis ich sie bitte, aus Respekt für ihren Kollegen und um dessen Konzentration nicht zu stören, nicht dazwischen zu spielen, während dieser etwas erklärt bekommt oder selbst ausprobieren soll. Ich versuche, die Schwierigkeiten, die jeder der Beiden hat, mit einfachen Übungen anzugehen. Danach nehmen wir uns besagte Mozart-Duette vor, bei denen ich die zweite Stimme spiele. Schließlich wollen wir ja auch etwas Musik machen.
Unermüdlich
Um die Mittagszeit kommt Doble dazu. Während wir vier Kollegen im Speisezimmer zusammen mit Armand und Maggy an einem mit edlem Geschirr und Blumendekoration liebevoll gedecktem Tisch Mittagessen serviert bekommen, wühlen sich die drei Klarinettisten durch das von mir mitgebrachte Material, probieren Mundstücke und Blätter. Der Salon, den ich für die Klarinetten requiriert habe, liegt direkt neben dem Speisezimmer und während wir essen höre ich die Drei nebenan üben, Tonleitern und immer wieder Mozart, Mozart, Mozart. So wird es noch bis abends um sechs weitergehen, ohne dass ich einen von ihnen zwischendurch einmal etwas essen oder auch nur einen Schluck Wasser trinken sehe.


Atmen
Weil wir festgestellt haben, dass eigentlich alle unsere Holzbläser Probleme mit der Haltung, der Lockerheit und dem richtigen Atmen haben, haben wir beschlossen, am Nachmittag einen kleinen Workshop zum Thema Atmung und Entspannung zu machen. Manuel, dessen Französisch deutlich geschmeidiger und vokabelreicher ist als meines, wird ihn leiten. Wir stellen uns zunächst ohne Instrumente im Kreis auf, machen gemeinsam Lockerungs- und Atemübungen. Manuel macht das einfach fantastisch! Er schafft eine sehr gute Atmosphäre und kann die Dinge einfach und klar in Worte fassen. Allen fällt es unheimlich schwer, einfach nur die Arme locker hängen zu lassen, besonders Junior kann seine Muskeln nur schwer entspannen. Wir erklären, warum Lockerheit für die Arbeit am Instrument wichtig ist. In einer kurzen Pause kommt er verstohlen zu mir und fragt mich schüchtern, ob er denn nun nicht mehr "pomper" dürfe – Gewichte stemmen. Nein, sage ich, Du musst Deinem Körper bloß den Unterschied zwischen Gewichtheben und Klarinette spielen beibringen! Und Manuel und ich beschließen, dass wir von jetzt an jeden Tag mit unseren gemeinsamen Gruppenübungen beginnen werden.


9. März, Nachts
SCHLAFLOS IN KINSHASA

Es ist weit nach Mitternacht. Und ich kann nicht schlafen. Unmöglich, die Geschehnisse des Tages einfach hinter sich zu lassen, die Augen zu schließen und ruhig die Nacht durchzuschlafen. Jedenfalls unmöglich für mich.


Dünger
Wir haben gestern angekündigt, den Unterricht des Tages um halb zehn zu beginnen, Paulin fährt uns wieder zum Kimbanguistenzentrum. Heute können wir den normalen Weg nehmen und fahren eine Weile an einer weiten, grünen Fläche vorbei, auf der gebückte Menschen stehen und, ja, wie es aussieht, Feldarbeit verrichten. Was sie auch tun. Die Fläche war bis vor einigen Jahren ein Friedhofsgelände, inzwischen wird dort, mitten in der Stadt und von den Menschen selbst für den Eigenbedarf Gemüse angebaut. Aber wie kann das sein, frage ich, wo sich doch alle Art von Müll über das Feld verteilt, so weit man schauen kann. Christian erklärt: Auf dem Feld würde eben auch Müll gesammelt, dann verbrannt und die Asche als Dünger für das angebaute Gemüse verwendet. Und "Müll" bedeutet in diesem Fall nicht Kompost. Sondern Plastikflaschen. Pappe. Autobatterien. Ich frage nicht weiter. Und bin froh, als wir in der Oase des Zentrums ankommen, das grüne Tor in der Mauer aus Wellblech sich fürs Erste hinter uns schließt und wir mit der Arbeit beginnen können.


Helfen, Motivieren, Inspirieren
Was fange ich mit meinen Schülern an? Die Zeit meines Aufenthalts ist nicht lang genug, um wirklich etwas bewirken zu können. Ich habe mir vorgenommen, jedem ein kleines "Journal des Exercises", ein Übeheft anzulegen, mit dem sie nach meiner Abreise weiterarbeiten können. Schreibpapier wird Maggy mir morgen besorgen, Notenpapier zum Notieren von Übungen habe ich bereits von Armand bekommen. Das wird meine Hausaufgabe für den Sonntag sein, den die Kimbanguisten mit einem den ganzen Tag andauernden Gottesdienst begehen und ohnehin kaum Zeit für Unterricht haben. Aber jetzt beginnen wir erstmal mit Atmen, stehen im Kreis und machen unsere Lockerungsgymnastik. Dann spielen wir Tonleitern. Lange Töne. Kurze Staccato-Töne. Gehen ins obere Register. Spielen Intervalle zusammen, die so unsauber sind, dass ich alle bitte, die Instrumente beiseite zu legen und die Intervalle zu singen. Plötzlich erklingen im Salon blitzsaubere Quinten, Quarten und geradezu beängstigend schöne Akkorde! Wir wechseln ab: Singen, Anblasen, Singen, Anblasen. Nach einer Weile klingen auch die Klarinetten-Akkorde sehr anständig, ich bin begeistert von meiner Truppe und sie staunen, wie herrlich man sich in einem klaren und reinen C-Dur baden kann! Dann spielen wir. Insbesondere Jasmine möchte ich ermutigen, mehr aus sich heraus zu gehen und mir mit ihrem Spiel die Freude an der Musik zu vermitteln. Wir nehmen eines der von mir mitgebrachten Notenhefte mit einfachen, bekannten Stücken, für eine Klarinette umgeschrieben. "Yesterday" kennt niemand. Auch nicht "The Sound of Silence". Allgemeines Kopfschütteln bei einigen anderen Klassikern der Popmusik. Aber der Donauwalzer von Johann Strauß ruft Begeisterung hervor! Jasmine soll Walzerkönigin sein, sie spielt die Hauptstimme und wir anderen begleiten sie. Improvisiert, wohlgemerkt. Ohne Noten. Nun staune ich! Denn die vier Musiker spielen aus dem Stand eine wirklich passable Begleitung und haben einen Riesenspaß daran, diese immer weiter zu verfeinern. Danach sind wir Alle geradezu ausgelassen!


Der vierte Schüler
Aber ja, inzwischen sind es vier Klarinettisten. Am späten Vormittag trifft Jacques ein. Und mit ihm das ganze Elend Afrikas. Jacques ist jünger als Christian, aber er wirkt wie ein alter Mann. Er humpelt stark, wahrscheinlich Polio. Er atmet schwer – ich habe Sorge, dass ich es mit der hier verbreiteten Tuberkulose zu tun habe und bitte Maggy, mir seine Diagnose zu übersetzen, da ich sein sehr afrikanisch gefärbtes Französisch nur schwer verstehe. Außerdem möchte ich ihn mit meinen Atemübungen nicht überfordern. Es seien Probleme mit dem Magen, ist die Antwort, aber es ginge schon wieder. Es geht überhaupt nicht. Jacques' Finger zittern, wenn er die Klarinette hält und er kann keinen geraden Ton spielen. Aus seinem schmalen, eingefallenen Brustkorb will einfach kein konstanter Atemstrom kommen. Er spiele seit 25 Jahren Klarinette. Aber es sei immer "très difficile", sehr schwierig, gewesen, wie er mir versichert, weil er niemals zuvor einen Lehrer gehabt hätte. Ich bin einigermaßen verstört und versuche, mir davon nichts anmerken zu lassen. Die drei jungen Musiker aber sind respektvoll, ja fast liebevoll im Umgang mit ihm. "Papa Jacques" nennen sie ihn, das ist Ausdruck eben dieses Respekts. Und auch Papa Jacques erstaunt mich. In seinem müden, abgearbeiteten und ausgebeuteten Körper, hinter seiner schwerfälligen und langsamen Art zu sprechen, verbirgt sich ein wacher Geist, der meine teilweise recht philosophischen Ansagen mit heftigem Nicken begleitet. Nach kurzer Zeit fängt er an, meine Sätze zu beenden, wenn ich mich in einer für mich zu schwierigen französischen Formulierung verheddert habe. Und trifft dabei immer den Nagel auf den Kopf.


Mein Afrika-Erlebnis
Der Tag hat mich müde gemacht. Trotz aller Freude daran, was zwischen den Musikern und mir entsteht, wie sie begeistert, fast übereifrig und unermüdlich mit mir arbeiten bin ich vollkommen ausgelaugt. Aber ich fahre in ein paar Tagen wieder nach Hause. Sie bleiben hier – in ihrem Leben, dessen Mühen und Strapazen ich mir zum ersten Mal überhaupt ansatzweise vorstellen kann, seit ich Papa Jacques kennengelernt habe. Ich setze mich auf die Veranda von Armands Haus. Zwischen dem Lärm, der von der Straße vor dem Zentrum hinter die Mauern dringt, rufende Menschen, Autohupen, knatternde Motorräder, höre ich plötzlich Gesang. Ich gehe den Klängen nach. In einer Ecke des Areals, direkt an der Wellblechmauer, sitzen die Frauen der Gemeinde und singen Choräle. Afrikanische Choräle, auf Lingala, mehrstimmig. Das ist so wunderschön, dass ich mich in einigem Abstand auf einen Vorsprung hocke und einfach nur zuhöre. Da sitze ich nun, lausche, und habe fern von Safari-Romantik und Ethno-Kitsch meinen ganz privaten Afrika-Moment. In der beginnenden Abenddämmerung, zwischen Autohupen und Transistorgeplärr singen die Frauen, Stunde um Stunde und ganz langsam, glaube ich, fange ich an zu begreifen, was den Menschen hier die Kraft gibt, im täglichen Kampf, der Armut, dem Staub, dem Dreck und dem Chaos zu überleben.


11. März, Abends
AUSFLUG

Gestern war der dritte Tag, den wir von morgens bis abends unterrichtet haben. Anfühlen tut es sich aber, als hätten wir schon wesentlich mehr Zeit hier verbracht. Und auch bei den Schülern zeigen sich erste Ermüdungserscheinungen. Aufmerksam haben sie in jeder Minute meinem Redestrom gelauscht, haben geatmet, in ihren Körper hineingefühlt und an sich herumzerren lassen. Ich versuche, am Samstagnachmittag etwas Dampf herauszunehmen und weniger zu reden, nehme die Musiker beim Duette spielen mit meiner iPad-Kamera auf und lasse sie selbst sehen, was ich die ganze Zeit an ihnen korrigiere. Außerdem bitte ich sie, mir einige Worte Lingala beizubringen und verwende diese bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, was immer zu großer Heiterkeit führt. Übrigens auch beim Küchenpersonal, was direkt nebenan arbeitet, ab und an seinen Kopf durch die Tür steckt und zuhört, was wir eigentlich so treiben. Trotzdem finde ich, es ist Zeit für einen Ruhetag, an dem sie das viele Gehörte sacken lassen können – in unserem intensiven Gruppenunterricht kommen sie kaum zum Nachdenken. Da trifft es sich gut, dass heute Sonntag ist, der bei den Kimbanguisten ohnehin einen ganztägigen Gottesdienst bedeutet.


Zu den Bonobos
Wir möchten gern auch einmal aus der Stadt hinauskommen und etwas von der Umgebung und der Natur des Kongo sehen. Daher beschließen wir, einen Ausflug zu machen. Wir fahren mit Paulin und Maggy zu einem Bonobo-Reservat, das ein bisschen außerhalb von Kinshasa und etwa eine Stunde Fahrt entfernt liegt. Bonobos sind Menschenaffen und der Welt noch nicht sehr lang bekannt. Denn es gibt sie tatsächlich nur hier im Kongo, und auch nur in einem bestimmten Gebiet östlich von Kinshasa bis zur Provinz Kasai-Orientale. Früher hat man sie für Schimpansen gehalten, bis ein amerikanischer Forscher, Hal Coolidge mit Namen, sie 1928 als eigene Affenart klassifizierte. Die Bonobos sind eine bedrohte Art, denn die Rodung des kongolesischen Regenwaldes und Jäger haben der Population schwer zu schaffen gemacht. Viele der Tiere sind als "Bushmeat", Fleisch von wildlebenden Tieren, in den Kochtöpfen der Menschen gelandet. Es gibt wissenschaftliche Meinungen, die die Übertragung und erste Verbreitung von HIV, Ebola und anderen Seuchenkrankheiten mit dem Verzehr des Fleisches von Menschenaffen in Verbindung bringen. Unser Erbgut jedenfalls stimmt zum allergrößten Teil mit dem der Bonobos überein. Und das kann man auch sehen.


Affenliebe
Wir durchwandern das sehr sorgsam angelegte Reservat auf verschlungenen Pfaden, es ist bergig und steile Treppen führen uns hinauf und wieder hinunter. Wir passieren lehmbraune Urwaldtümpel und überqueren auf Holzstegen einen kleinen Fluss, dessen Farbe deutlich ins Rötliche geht, sehen Palmen, Lianen und imposante Termitenhügel. Die Bonobos können wir an verschiedene Stellen beobachten, einmal kommen wir bis auf wenige Meter an eine Gruppe heran, die hinter einem Zaun vor uns geschützt ist und in der Sonne tobt, sich lautstark zankt und in einem großen Wassertrog badet. Es wirkt tatsächlich, als würde man einer Großfamilie beim Sonntagsausflug zusehen. Nach kurzer Zeit wird die Rangordnung sehr offensichtlich. Bei den Bonobos herrscht das Matriarchat, schnell können wir die Chefin der Familie ausmachen, die den jungen Männchen deutlich zu verstehen gibt, dass sie keine Kompromisse zu machen gedenkt. Während sich die jugendlichen Draufgänger um blätterreiche Zweige balgen und gegenseitig mit Prügel überziehen, genügt eine Handbewegung von ihr, um klarzustellen, dass eine erbeutete Banane ihr und nur ihr gehört. Zwei Babys gibt es in der Familie. Eines davon klettert seiner im Gras liegenden Mutter auf den Bauch, sie hebt es hoch und wirft es zu unserem Entzücken ein, zwei, drei Mal wie zum Spaß in die Luft! Spätestens jetzt habe ich das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen – denn dieses Spielchen habe ich selbst noch vor wenigen Tagen zuhause mit meiner Tochter gespielt.


Essen am See
Das Wandern in der tropischen Hitze hat uns erschöpft und durstig gemacht, wir fahren zu einem vier Kilometer entfernten See, an dem es ein Restaurant geben soll. Vier Kilometer, normalerweise ist das ein kurzer Weg, nicht aber hier. Bergauf, bergab, der Wagen holpert durch tiefe Schlaglöcher und über dicke Baumwurzeln. Die Buschpiste rüttelt und schüttelt uns kräftig durch, aber da wir das aus Kinshasa-Stadt mittlerweile gewohnt sind, staunen wir vor allem über die imposante Natur, die uns umgibt. Schließlich angekommen, sitzen wir schattig unter Bambusmatten, genießen kühles Wasser, kongolesisches Essen und den Ausblick auf den See. Es tut gut, die Stadt einmal hinter sich zu lassen und sich bewusst zu machen, von was für einer herrlichen Natur man hier eigentlich umgeben ist. Aber eine von vielen Fragen, die diese Reise aufwirft und die mich den Abend über weiter beschäftigen wird: Wie soll man jemandem, der permanent gegen das Verhungern ankämpft, klarmachen, dass Bonobos eine schützenswerte Art sind und nicht auf den Teller gehören? Und welches Recht hätte man dazu?


12. März, Morgens
DIE KIMBANGUISTEN

Heute ist der siebte Tag unserer Reise, und der sechste, den wir in Kinshasa zubringen. Durch die intensive Arbeit, die vielen Eindrücke, die hier auf uns einstürmen fühlen wir uns, als hätten wir schon wesentlich mehr Zeit in Afrika uns vor allem auch miteinander verbracht.
Unsere kleine Reisegruppe ist enger zusammengerückt.
Abends sitzen wir jetzt immer lange auf unserer Veranda und sprechen ausführlich über alles, was wir hier an Fremdem, Berührendem, Frustrierendem und Ungeheuerlichem erleben. Diskutieren, was den Musikern hier vor Ort wirklich helfen kann und wie man dieses Projekt weiterbringen könnte. Und spülen die stärksten Eindrücke, die schwer in Worte zu fassen sind, mit einem Fingerbreit Whiskey hinunter.


Ein kongolesischer Mandela
Wir schätzen uns alle sehr glücklich, dass wir durch die Zusammenarbeit mit den Musikern die Gelegenheit haben, wirklich mit den Menschen in Berührung zu kommen. Nun geht es den Kimbanguisten, eine christliche Gemeinde, die als erste afrikanische Kirche vom Weltkirchenrat anerkannt wurde, eigentlich für hiesige Verhältnisse recht gut. Der Großvater Armand Diangendas, Simon Kimbangu, hat die Religionsgemeinschaft begründet und wird hier als Messias der Afrikaner verehrt. Seine Lehre geht davon aus, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben ist und nicht nur den Weißen „gehört“, sondern gerade den Afrikanern, die Hunger, Armut und zu Kimbangus Zeit schlimmste Ausbeutung und Unterdrückung durch die belgischen Kolonialherren erfuhren. Natürlich waren eben diese nicht begeistert davon, dass ein Schwarzer sich anschickte, das Christentum für sich und seine afrikanischen Brüder selbst auslegen zu wollen. Simon Kimbangu wurde verhaftet und verbrachte die folgenden dreißig Jahre im Gefängnis, wo er schließlich auch starb. Sein Enkel Armand ist heute das spirituelle Oberhaupt der Kirche – die Kimbanguisten haben mittlerweile etwa zehn Millionen Anhänger hier im Kongo, aber auch in angrenzenden Ländern wie der Republik Kongo und Angola. Armand wird von den Menschen mit tiefem Respekt verehrt, ja eigentlich angebetet. Wenn die Gläubigen ihm begegnen, wird sich tief verbeugt, manche knien sich gar auf die Erde und warten, bis er den Raum verlassen hat. Sein Haus, beziehungsweise das große Haus seiner Familie, in dem er mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt, ist Gemeindezentrum, Büro der Kirche und Probenort für das Orchester in einem. Armand dirigiert, betreut die Musiker, beschafft Instrumente und wirbt auf seinen Reisen nach Europa für sein Orchester. Aber er kümmert sich auch um die Schäfchen seiner Gemeinde und hilft ihnen bei Problemen. Wir werden mit größter Gastfreundschaft aufgenommen, dürfen uns ebenfalls im ganzen Haus zum Unterrichten verteilen und werden jeden Mittag fürstlich bekocht.


Gegensätze
Armand Haus ist das eines reichen Kongolesen, eine Oase inmitten des Staubes und Gewimmels des Viertels, in dem es liegt. Es gibt eigentlich alles, was man in einem westlichen Haus auch finden würde, inklusive eines überdimensionalen Flachbildfernsehers, vor dem oft einer der Söhne oder ein anderer Junge sitzt und europäischen Fußball schaut. Es gibt sogar Internet beziehungsweise W-LAN, jedenfalls theoretisch, denn Stromausfälle sind hier an der Tagesordnung und keiner von uns wundert sich mehr, wenn zum zehnten Mal am Tag das Licht plötzlich ausgeht. Auch fließendes Wasser ist keine Selbstverständlichkeit und im Vorraum der Toilette steht immer eine große Tonne mit Wasser, aus der man mit einem Eimer schöpfen und selbst spülen muss, wenn mal wieder nichts aus der Leitung kommt. Auf dem Gelände des Kimbanguistenzentrums halten sich zu jeder Zeit des Tages viele Menschen auf. Die Musiker, die zum Proben und unserem Unterricht kommen. Gemeindemitglieder, die im Hof den täglichen langen Nachmittagsgottesdienst abhalten, stundenlang auf der Erde knien und beten. Abends die Frauen, die im Kreis sitzen und afrikanische Choräle singen. Sobald man aber das Gelände verlässt, steht man wieder mitten im "Quartier", womit die Wohnviertel bezeichnet werden und was hier eigentlich nur die etwas elegantere französische Umschreibung für "Slum" ist. Die Straße, an der das Zentrum liegt, ist immerhin kürzlich asphaltiert worden, an den Straßenrändern jedoch bietet sich das typische Bild, was man in ganz Kinshasa hat: Menschen sitzen den ganzen Tag hinter einem kleinen Tisch oder auch im Staub auf der Erde und versuchen Brot, Früchte und Gemüse, Telefonkarten, Altmetall, Wasser- und Limonadeflaschen, Turnschuhe, Autoteile und noch unzählige andere Dinge zu verkaufen.


Ordnung
Trotzdem: Wir stellen übereinstimmend fest, dass wir uns schon auf eine Weise an den Kongo gewöhnt haben. Immer wieder gibt es Situationen und Bilder, die einen überraschen und aufwühlen. Aber nach einer Woche Aufenthalt erkennen wir doch eine gewisse Ordnung in den Dingen, die natürlich auch nichts mit dem gemein hat, was wir bei uns darunter verstehen. Die Märkte in Kinshasa beispielsweise sind zum Teil nach Themen sortiert. Der Markt an der Straße des Kimbanguistenzentrums sieht zunächst aus, wie eine wahllose Ansammlung von Bretterständen, Haufen von Metall, alten Sanitärgegenständen, Reifen und schlicht Krempel, ist aber in Wahrheit sozusagen der Baumarkt Kinshasas, auf dem man wirklich alles bekommen kann, was man bei uns auch dort kaufen würde. Nur eben alles immer unter freiem Himmel, auf wackeligen Tischchen, Decken oder dem Staub der Erde. Die Sachen sind nach Verwendung sortiert und zu kunstvollen Stapeln aufgeschichtet.


Einfach anders
Manuel bringt es auf den Punkt: Man dürfe einfach nicht erwarten, das irgendetwas hier auch nur irgendwie ansatzweise so aussieht, wie bei uns. Natürlich gibt es vieles, was hier überhaupt nicht funktioniert. Stromversorgung, Wasser, Müllabfuhr, öffentlicher Nahverkehr und viele weitere Dinge, die bei uns selbstverständlich sind. Wenn man sich aber mal eingeschaut hat, kann man schon erkennen, wie die Dinge nach einem bestimmten Muster ablaufen und wie das Leben der Menschen durch bestimmte Abläufe bestimmt wird.


13. März, Frühmorgens
DER LETZTE TAG

Es ist fünf Uhr morgens. Nachdem ich bereits die letzten zwei Stunden wachgelegen habe beschließe ich, dass ich die vielen Gedanken, die in meinem Kopf Karussell fahren genauso gut jetzt niederschreiben kann. Schlafen kann ich ohnehin nicht mehr.
Heute ist mein letzter Tag in Kinshasa
Am Abend werden Manuel und ich das Flugzeug nach Brüssel besteigen, Ludwig und Christian bleiben noch einige Tage und reisen am Freitag abend ab. Unsere Koffer müssen wir bereits vormittags in der Stadt einchecken, werden dann bei Armand zu Mittag essen und nachmittags noch unterrichten, bis Maggy uns um sechs Uhr zum Flughafen bringt.


Stoffmarkt
Wir möchten gern vor unserer Abreise noch Stoff kaufen. Die unglaublichen Farben und Stoffe, die man hier überall sieht, haben es uns angetan. Die kongolesischen Männer laufen im Wesentlichen so herum, wie bei uns auch und tragen westliche Kleidung: T-Shirts oder Hemden, Anzüge und lange Hosen. Die Frauen jedoch sieht man fast ausnahmslos Kleider tragen. Prachtvolle lange Kleider in leuchtenden Farben und fließenden Stoffen, eng auf Figur geschneidert und von den auffällig vielen wirklich wunderschönen Frauen und Mädchen hier mit einer gelassenen Eleganz und Grazie getragen. Die Kleider werden nicht fertig gekauft, sondern man besorgt ein paar Meter Stoff und lässt sich von einer der vielen Schneiderinnen etwas daraus nähen. Fertige Kleider zu kaufen ist deutlich teurer und für die meisten Leute nicht erschwinglich. Mir wird Nadine, Geigerin im Orchester und Schneiderin im Hauptberuf, ein afrikanisches Kleid machen, was mir Christian dann mit nach Deutschland bringt. Mit Maggy und ihr habe ich gestern abend noch in Armands Speisezimmer besprochen, wie das Kleid aussehen soll. Ich erklärte Nadine, was ich mir vorstelle, zupfte und zerrte an meiner Bluse herum, um den richtigen Ausschnitt zu demonstrieren. Da standen wir nun, wir drei Frauen, eine Europäerin und zwei Afrikanerinnen, nahmen Maß, suchten die ideale Passform für mich, kicherten und schwatzten dabei fröhlich vor uns hin – während meine drei Jungs daneben saßen und verständnislos die Köpfe schüttelten.


"Meine" Schüler
Ich frage mich, was mein Aufenthalt eigentlich für die Musiker gebracht hat. Man kann einfach in so kurzer Zeit nicht die vielen Probleme lösen, die ein Anfänger beziehungsweise Autodidakt am Instrument hat. Dafür braucht es deutlich mehr Zeit und eine wesentlich größere Kontinuität in der Arbeit. Wir hoffen, dass wir dieses Projekt weiterführen können und vielleicht noch viele Kollegen aus unterschiedlichen Instrumentengruppen die Reise unternehmen, um diese Kontinuität zu erreichen. Erstmal bin ich aber sogar ein bisschen begeistert von meinen Schülern, denn gestern vormittag spielt beispielsweise Jasmine ein paar Ton- und Staccato-Übungen mit perfekter Artikulation und einem Klang, den sie so vor einer Woche noch nicht erzeugen konnte. Ich habe zuletzt vorwiegend mit den Klarinettisten geübt, sie angeleitet, wie sie selbst richtig üben und sich gegenseitig helfen und korrigieren sollen, wenn ich wieder weg bin. Jeder hat unterschiedliche Stärken und Schwächen und so hat auch jeder von mir einen "Auftrag" bekommen, wofür er in der Gruppe verantwortlich sein soll. Jasmine kann gut artikulieren, Doble hat schnelle und geschmeidige Finger und soll die Technikübungen betreuen. Jacques habe ich "le philosoph" getauft – er kann zwar praktisch nicht spielen, aber weil er gut hört, sich Dinge gut merken und ausdrücken kann, habe ich ihn für den intellektuellen Überbau verantwortlich gemacht. Er wird die Anderen immer wieder an die zentralen Sätze erinnern, die ich nun tagelang gepredigt habe.


"...mais mon esprit était avec vous!"
Gestern bin ich mit Doble eigentlich für vier Uhr nachmittags verabredet. Er ist Lehrer und muss vormittags in der Schule unterrichten. Er ist mit seinen fünfunddreißig Jahren nach Jacques der Älteste und derjenige, bei dem ich den meisten Hunger spüre, zu lernen, sich zu verbessern, voranzukommen. Er hat schon am ersten Tag gequält aufgejault als er gehört hat, dass ich bereits Dienstag wieder fahre. Ich habe ihm eine exklusive Einzelstunde versprochen, um die Zeit, die die Anderen bekommen haben, aufzuholen. Es wird viertel nach vier, halb fünf, viertel vor fünf, keine Spur von meinem Eleven. Ich nutze die Zeit und beginne das "Journal des exercises" zu schreiben, eine Sammlung meiner Übungen, die ich den Musikern versprochen habe, damit sie nach meiner Abreise damit weiterüben können. Schließlich trifft Doble um viertel vor sechs ein. Mit hängendem Kopf. Er hätte nachmittags noch in der Schule arbeiten müssen. Weil er sich schon am letzten Freitag frei erbeten hatte, um zum Unterricht zu mir zu kommen, hätte man ihn heute nicht weggelassen.Ich war bei der Arbeit, aber mein Geist war bei Ihnen, so sagt er. Ich nehme mir noch ein paar Minuten, gehe die Klarinettenschulen, die ich für die Musiker hier mitgebracht habe mit ihm durch. Versuche, ihn aufzumuntern, zu erklären, wie er weiterarbeiten kann und ihm Perspektiven zu aufzuzeigen. Doch so recht gelingt es mir nicht. Ob ich wiederkäme, fragt er. Ich würde es wohl versuchen, antworte ich ihm.
"Madame Nicola, quand vous êtes bien retournée à la maison et réuni avec vos enfants, n'oubliez pas que vous avez les enfants ici en afrique aussi"
Madame, wenn Sie nach Hause zurückgekehrt und wieder mit ihren Kindern vereint sind, vergessen Sie nicht, dass Sie hier in Afrika auch Kinder haben.
Ich schlucke schwer. Und verspreche es ihm.


13. März, Nachts
NACH HAUSE

Das Flugzeug nach Brüssel via Yaoundé, Kamerun, hat pünktlich abgehoben. Manuel und ich sitzen müde und abgekämpft aber glücklich nebeneinander und sind einfach nur froh, dass alles geklappt hat und wir nun wirklich auf dem Weg nach Hause sind. Denn die Fahrt zum Flughafen war nochmal abenteuerlich. Man meint, sich nach einer Woche an den Kongo gewöhnt zu haben, bildet sich ein, dass man nun wirklich oft genug auf den Straßen Kinshasas unterwegs war, um nicht mehr groß überrascht zu werden. Aber so ist es nicht, und ganz bestimmt nicht heute abend.


Rush hour
Der Verkehr wälzt sich in langen Kolonnen durch die Dunkelheit über die Ausfallstraße in Richtung des Flughafens N'djili. Autos, Lastwagen, Motorräder, die zahlreichen Sammeltaxis und dazwischen unglaublich viele Menschen. Arbeiter auf dem Heimweg. Frauen, die ihre Kinder im Tuch auf dem Rücken tragen und auf dem Kopf große Körbe und Plastikbottiche mit Waren transportieren, die sie den Tag über an irgendeinem Stand irgendwo in der Stadt verkauft haben. Wasserverkäufer, die in großen Plastiksäcken auf ihrem Kopf Wasser befördern, was wiederum in kleinere Plastiktüten abgepackt ist und halsbrecherisch zwischen all den Gefährten hindurchlaufen, um davon noch etwas an den Mann zu bringen. Junge Männer, die den vollgestopften Sammeltaxis – Manuel und ich zählen die Fahrgäste in einigen der vorbeifahrenden VW-Busse und Toyota-Kleintransporter und kommen auf die unglaubliche Zahl von bis zu 24 Personen – hinterherlaufen, auf die Stoßstangen springen und sich am Dach festhalten, um mitzufahren. Das alles in Flip Flops. Dazu unzählige Fußgänger, die mit Kind und Kegel, Sack und Pack an allen möglichen und unmöglichen Stellen die Piste überqueren.
Halsbrecherisch – das ist es wirklich auf Kinshasas Straßen. Denn vom Staub und den vielen Schlaglöchern und Kratern mal abgesehen, gibt es hier auch keine Spuren. Alles fährt durcheinander, quetscht sich durch die kleinsten Zwischenräume und hupt fortwährend wild die anderen Verkehrsteilnehmer an. Mehr als einmal müssen wir warten, weil sich Fahrzeuge von der Gegenfahrbahn zu uns herüber verirrt haben und alle sich irgendwie umeinander herum zwängen müssen, ohne einen der besagten vielen Fußgänger tot zu quetschen.


Kinshasa International Airport – Les Passeports, s'il vous plait!
Am Flughafen müssen wir uns von Maggy verabschieden, die uns noch so weit wie möglich begleitet. Schließlich darf sie aber nicht weiter mit, und mit Umarmungen, vielen Kusshänden und mehr als einem von Herzen kommenden "Dankeschön!" trennen wir uns vor der Abflughalle. Über der Halle läuft im zweiten Stock eine Galerie, von der aus sie noch eine Weile über uns wachen wird, während wir den Eincheckvorgang hinter uns bringen.
Zu Beginn steht eine Kontrolle unserer Reisepässe, die wir von der Passeinsicht am Eingang der Halle noch griffbereit haben, und des Handgepäcks, durchgeführt von zwei Beamten mit Plastikhandschuhen. Die Männer sind einigermaßen erstaunt über den Inhalt unserer Instrumentenkoffer und fragen uns, mit was sie es da wohl zu tun hätten. Wir erklären es ihnen, auch, wozu man den kleinen Schraubenzieher benutzt, den Manuel in seinem Oboenkasten liegen hat. Einer der Beamten moniert zu recht, dass das Werkzeug spitz genug sei, um jemanden damit ernsthaft zu verletzen und demonstriert noch einmal mit einer kräftigen Armbewegung, wie man das wohl anstellen würde, bevor er ihn Manuel zurückgibt. Mein kleines Fläschchen mit Handdesinfektionsmittel wird mir abgenommen, meine Wasserflasche hingegen darf ich behalten. Unsere Bordkarten haben wir schon vormittags beim City-Check In, der Gepäckabgabe, in der Innenstadt Kinshasas bekommen. Als wir damit aber Richtung Passkontrolle gehen wollen, werden wir noch einmal zurückgeschickt – wir sollen an einem weiteren Schalter abermals unseren Reisepass vorzeigen und einen Stempel auf den Boarding Pass geben lassen. Nach eingehendem Studium unserer Reisedokumente durch zwei Beamte bekommen wir diese zurück und stellen uns ein weiteres Mal bei der, ja richtig, Passkontrolle an.
Danach ist eigentlich alles ganz einfach. Wir müssen nun unser Handgepäck durchleuchten lassen, wieder rufen unsere Instrumente leichte Irritation hervor, aber der Sicherheitsbeamte ist zum Glück freundlich genug, auf eine sofortige Demonstration der Verwendung der komischen Dinger zu verzichten. Bis zum Abflug sitzen wir in der kleinen Bar in einer Ecke der Halle. Weil es am einzigen Abfluggate keine Lautsprecheranlagen gibt, laufen vor jedem Boarding Männer in gelben Westen durch die Gegend und rufen die jeweilige Fluggesellschaft auf. Aus nachvollziehbaren Gründen wollen wir nicht, dass das Flugzeug Kinshasa ohne uns verlässt und passen auf wie die Schießhunde! Wir verlassen die Abflughalle, nicht ohne ein weiteres Mal mit unseren Pässen gewedelt zu haben, und werden den kurzen Weg über das Rollfeld gefahren. Vor dem Flugzeug müssen wir erstmal unseren "Go-Pass" abgeben. Jeder Reisende ist verpflichtet, dieses Papier für 50 US-Dollar zu erwerben - es ist die Entsprechung zu unserer deutschen Flughafengebühr. Dann wird an einem langen Holztisch noch ein letztes Mal unser Handgepäck kontrolliert. Als wir schließlich im Flugzeug sitzen, haben wir trotz des zehnstündigen Fluges, der noch vor uns liegt, das Gefühl, schon fast Zuhause zu sein!


14. März, Morgens
WAS BLEIBT

Was nun nehmen wir von dieser Reise mit?
Was hinterlassen wir in Kinshasa?
Wir hoffen sehr, dass unser Aufenthalt die Musiker dort vielleicht ein klitzekleines Stück weitergebracht hat auf ihrem Weg, zu lernen. Dass wir sie motivieren konnten, inspirieren, weiter an sich zu arbeiten und Freude an der Musik zu haben. Manuel hat seinem besten Schüler, Diego, der beim Radio arbeitet, am vorletzten Tag noch ein Interview für dessen Klassiksendung, "Crescendo", gegeben. Außerdem hat ihn Diego mit einer Kamera von Armand eine Stunde lang beim Rohrbau gefilmt, um die Arbeitsschritte später besser nachvollziehen zu können. Es ist schwer zu sagen, was wir bewirkt haben. Zu schwierig sind die Lebensumstände der Musiker dort. Zu sehr unterscheiden sie sich von allem, was wir aus unserem eigenen Leben kennen, als dass wir wirklich beurteilen könnten, was unser Aufenthalt für die kongolesischen Kollegen bedeutet hat.


Gespräche, an die man sich erinnert
Vieles, was wir über das tägliche Leben der Kongolesen wissen, haben wir von Maggy gehört, der wachen, klugen, immer fröhlichen und insgesamt schlicht unverzichtbaren Maggy, die durch ihre Studienzeit und weitere Aufenthalte in Europa unsere Lebensweise gut kennt und unsere vielen Fragen über den Kongo und die Menschen dort zu jeder Zeit ausführlich und geduldig beantwortet hat. Meistens sind wir Essen gegangen, an einem Abend jedoch waren wir beim Kulturreferenten der deutschen Botschaft, Alexander Roth, zu Gast, der uns mit köstlicher Pizza bewirtet hat. Alex ist ein sehr belesener und umfassend gebildeter junger Mann, dessen kenntnisreiche Schilderungen der politischen Zusammenhänge hier im Kongo uns sehr beeindruckt hat. Er wiederum beneidete uns fast ein wenig um die Erfahrung, wirklich mit Menschen vor Ort zu tun zu haben. Die Diplomaten blieben im täglichen Leben doch eher unter sich und unterwegs säße man als offizieller Angehöriger und Repräsentant der Botschaft eben doch immer in der gepanzerten Limousine. Er schilderte anschaulich, wie ihn das Wachpersonal seiner Privatwohnung neulich einmal kräftig heruntergeputzt hätte, weil er es gewagt hat, nach einer abendlichen Veranstaltung die dreihundert Meter zu seinem Wohnhaus allein zu Fuß nach Hause zu gehen. Ob er denn wohl unbedingt von Straßenkinderbanden oder Teenagergangs überfallen werden wolle...?!
Diese Art Gefahren haben wir Vier gar nicht wahrgenommen. Aber natürlich sind auch wir fast immer von Paulin im Auto gefahren worden beziehungsweise haben Maggy oder einen der Musiker dabei gehabt, wenn wir uns auf der Straße bewegt haben.


Meine Bilder
Ich nehme von dieser Reise vor allem viele Bilder mit, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben und da sicher eine ganze Weile bleiben werden. Die Veranda unserer Residenz, auf der wir Vier bis tief in die Nacht vertraute Gespräche führen und die Erlebnisse des Tages miteinander teilen. Meine Schüler, wie sie im Kreis stehen, die Arme heben und gemeinsam atmen, mit geschlossenen Augen. Die vielen wunderschönen Frauen und Mädchen in ihren prachtvollen, farbenfrohen Kleidern. Die Händler mit ihren Ständen voller Waren, die überall in Kinshasa am Straßenrand stehen. Das Päckchen M&Ms, was ich in einem Supermarkt entdecke, in dem ausschließlich Diplomaten, Angehörige westlicher Firmen und Hilfsorganisationen sowie reiche Kongolesen einkaufen, welches mit einem Preis von 18,60$ ausgewiesen ist. Achtzehn Dollar!!
Was man so alles auf Köpfen transportieren kann: Kunstvoll aufgetürmte Brote, Pflanzen, Obst und Gemüse, Wasserflaschen, einmal sehen wir einen Mann, der eine Pyramide aus Paletten mit Eiern balanciert! Ein anderer trägt gleich einen ganzen Tisch. Der Junge, acht oder neun Jahre alt, der an einer der wenigen Ampeln zwischen stehenden Wagen herumläuft und einem bedeutet, er hätte Hunger und man solle ihm etwas Geld geben. Ludwig öffnet die Scheibe und drückt ihm einen 500-Francs-Schein in die Hand, etwa 50 Cent. Im Gesicht des Jungen erst ungläubiges Staunen, dann geht die Sonne auf und das Kind vollführt mit seinen Flip Flops einen Freudentanz auf dem Asphalt, mitten zwischen den wieder anfahrenden Autos.
Und schließlich die Frauen der Kimbanguisten, die abends in der Dämmerung auf dem Gelände des Zentrums im Kreis sitzen und Choräle singen.
Für mich einer der berührendsten Momente der Reise – und der Klang Afrikas.

Fotos: Michael Bause

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